Normalerweise wäre ich entsetzt über die Prognose vom „Ende der Bibliothek“, aber Philipp Müller – Leiter der Kunsthochschule Kassel – und als Buchgestalter und gelernter Schriftsetzer sogar regelrecht „vom Fach“, zeigt mit seiner aktuellen Arbeit ganz im Gegenteil seine Affinität zur Bibliothek.
Denn „The End(s) of the Library – Die Zukunft der Bibliothek“ , wie der komplette Titel des internationalen Projektes lautet, ließe sich auch umschreiben mit „Die Bibliothek ist tot, es lebe die Bibliothek!“
Doch wie kommt es zu einer solchen Aussage? Wie entstand dieses Projekt? Und wie gehört die Kunst zur Bibliothek? Die Antwort ist ebenso banal wie einleuchtend. Beide – Kunst wie Bibliothek – erleben zur Zeit einen Umbruch, werden mit einer zunehmend digitalen Umgebung konfrontiert und fragen sich, wie sie damit umgehen sollen. Brigitte Döllgast, Leiterin des Arbeitsbereiches Information und Bibliothek am Goethe-Institut in New York, schreibt in einem Artikel in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Buch und Bibliothek:“ …beide zeichnen sich durch ein gewisses Festhalten an real präsenten Räumen aus. Doch sind die Folgen für die Bibliotheken dramatischer als für die Kunst. Während diese mit dem Changieren zwischen ‚Virtuell‘ und ‚Real‘ kreativ spielen und sich daran entwickeln kann, weckt dieser Antagonismus ganz neue und nicht immer realistische Erwartungen an die Bibliothek und berührt den Kern ihrer Existenz.“ (BuB 2013,6 S. 428ff)
Wohin geht also „die Bibliothek“? Wie wird sie sich weiterentwickeln, was wird aus ihr? Ausgehend von diesen Fragestellungen entstand das Künstlerprojekt „The End(s) of the Library“, das von der Bibliothek des Goethe-Instituts New York in Auftrag gegeben wurde und sich aus mehreren Ausstellungen und Sonderveranstaltungen zusammensetzt, die von Oktober 2012 bis Juni 2013 stattfinden. Künstler und Künstlergruppen waren eingeladen, „die Bibliothek des Goethe-Instituts New York als Ausgangspunkt zu nehmen, um über das Potential von Bibliotheken zu reflektieren,“ wie es auf den Internetseiten des Goethe-Instituts heißt. Betrachtet werden soll, „wie im digitalen Zeitalter bisherige Sichtweisen der Bibliothek neuen Möglichkeiten und revidierten Parametern Raum gemacht haben. Ein besonderer Fokus wird darauf gelegt, dass die Bibliothek weder ein monolithisches System noch eine überholte Utopie ist, sondern ein sich in einem stetig Reflektionsprozess befindliches Feld, welches permanent neue Lesarten seiner organisatorischen Rahmenbedingungen erfordert: eine Institution deren Möglichkeiten endlos sind.“ … Bibliothekare hören das richtig gern!!
Elective Affinities heißt Müllers Beitrag zu diesem Projekt und bringt ein Stück Kasseler Kunst ins weit entfernte New York. Ausgestellt werden seltene Archivmaterialien vergangener Zeiten, u.a. der documenta 5 und 6, aber auch zwei Wanderstöcke, einst ein Geschenk von Joseph Beuys an Arnold Bode. So wandert die Kunst zwischen den Welten, verbindet, bewegt, und ist so international und überall gleichzeitig zu Hause wie es kaum eine andere Disziplin vermag: ohne viel Worte oder große Erklärungen.
Und wie übertragen wir das auf die Bibliothek? Vielleicht so: die Ausstellung von alten Dokumenten, historischen Fotos, Filmaufnahmen u.ä. zeigt uns die Vergänglichkeit. Was in den Siebzigern High-Tech war, ist heute alt, überholt, zeigt seinen Wert nur noch im Älterwerden. Was gestern modern war, ist heute out. Und morgen ist heute schon gestern, wie es so schön heisst. Was heute in ist, morgen kräht danach wahrscheinlich kein Hahn mehr.
Das gilt für die Kunst wie für die Bibliothek. Und doch können beide nicht einfach den „alten Kram“ über Bord werfen. Was gestern war, ist alt. Aber auch erhaltenswert. Es gilt, sich in beiden Welten zu bewegen, in der neuen bewandert zu sein, die alte nie ganz zurücklassend. Erhalten und neu schaffen. Das ist der Auftrag. So könnte Müllers Aussage sein.
Oder, wie es Brigitte Döllgast schreibt: „In Elective Affinities, worin alte ’neue Medien‘ ihren Schatten werfen, wird ein Grundkonzept der Bibliothek anschaulich: ihre Brückenfunktion, indem sie Ort sowohl herkömmlicher wie avancierter Medien ist und dafür sorgt, dass die Kulturinhalte der Öffentlichkeit in allen Formen verfügbar bleiben.“
… so endet dieses Projekt in wenigen Wochen. Welche Schlüsse lassen sich ziehen, wohin geht „die Institution, deren Möglichkeiten endlos“ sind? In welchen Farben gestaltet sich die Zukunft? Am Ende gibt „The End(s) of the Library“ statt Antworten viele neue Fragen auf. „Und“, so schließt Frau Döllgast, „das war es ja, worauf wir uns einlassen wollten.“