Zitierfähig, langzeitarchiviert und frei verfügbar: Die Antrittsvorlesung der diesjährigen Rosenzweig-Professur ist jetzt vom Hochschulschriftenserver KOBRA als Tondokument abrufbar. „Ich habe das Thema Franz Rosenzweig und das Freie jüdische Lehrhaus gewählt, um nach einer Pause zum Namensursprung zurück zu führen“, sagte Professor Liliane Weissberg den etwa 70 Zuhörern, die sich am 25. April zu ihrem Vortrag eingefunden hatte.
Zum einen wollte Frau Weissberg mit der Themenwahl an das Leben und das Werk des in Kassel geborenen jüdischen Historikers und Religionsphilosophen, den Namensgeber der Professur, erinnern. Zum anderen ging es ihr auch darum, kritisch Bilanz zu ziehen. „Was ist seine Hoffnung gewesen und konnte sie so erfüllt werden?“, fragte sie. Rosenzweig (1886-1929) hatte nach einer Promotion die akademische Karriere ausgeschlagen und wollte mit der Gründung des „Freien jüdischen Lehrhauses“ 1920 in Frankfurt am Main eine Akademie etablieren, die allen interessierten Bürgern zum Vortrag und zur Diskussion offen stehen und der geistig-spirituellen Erneuerung des Judentums dienen sollte. Nach anfänglichem Erfolg zeichneten sich jedoch bald grundsätzliche Schwierigkeiten ab. „Viele Veranstaltungen blieben klein. Manche Sprecher erwiesen sich, wie der Soziologe und Journalist Siegfried Kracauer, als schlechte Redner. Kracauer stotterte. Das erhoffte Publikum um die Frankfurter Zeitung blieb fern“, so Weissberg. Rosenzweigs Genialität lief ins Leere, weil er auf ein Publikum traf, das ihn nicht verstand. „Man sah: Die Erweckung des religiösen Judentums war eine Utopie“, zitierte Frau Weissberg den Mediziner Viktor von Weizsäcker, ein Freund Rosenzweigs. Und die orthodoxen Juden Frankfurts boykottierten das Lehrhaus sogar. Es schloss bereits 1926.
Rosenzweig wandte sich in seinen letzten Lebensjahren mit Martin Buber einer Neuübersetzung der Bibel zu, um die Fremdheit und Lebendigkeit des hebräischen Textes in der deutschen Sprache auszudrücken. Die Übersetzer nannten ihr Projekt ganz einfach „Die Schrift“. Sie setzt auch die Idee des Lehrhauses fort. „Statt eines einfachen Verstehens sollte ein Dialog mit dem Text beginnen, der selbst Gott wie in einem Lehrhaus sprechen ließ“, sagte Liliane Weissberg in ihrer Vorlesung.
„Ganz nebenbei wurde der Text ‚Die Schrift‘ auch ein großes Zeugnis der deutschen modernen Dichtung“, würdigte die Literaturwissenschaftlerin das Werk Rosenzweigs. Ihm sei es gelungen, die Diskussion um das Judentum in eine aktuelle Diskussion zu verwandeln. Zum Schluss gab es noch eine Kostprobe aus der Bibelübersetzung von Buber/Rosenzweig. Wir geben sie an dieser Stelle in Gegenüberstellung zur Luther-Bibel wieder:
Buber/Rosenzweig | Luther (1984) |
Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser.Gott sprach: Licht werde! Licht ward. Gott sah das Licht: daß es gut ist.Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis.Gott rief dem Licht: Tag! und der Finsternis rief er: Nacht!Abend ward und Morgen ward: Ein Tag.(Im Anfang, 1, 1ff.) | Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass Licht gut war.Da schied Gott Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht.Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.(Die Schöpfung, 1. Genesis 1, 1-5) |
Liliane Weissberg ist Christopher H. Browne Distinguished Professor in the Arts and Sciences am Department of Germanic Languages and Literatures der University of Pennsylvania in Philadelphia (USA). Ihre Franz-Rosenzweig-Antrittsvorlesung lässt sich als Audio-File (mp3) über diese Internet-Adresse zitieren bzw. abrufen: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:34-2012050341164