Fast 90 Jahre nach der erzwungenen Auslieferung von Buch- und Archivalienbeständen der Philosophisch-Politischen Akademie aus dem Landerziehungsheim Walkemühle bei Melsungen an die Gestapo wurde nun ein Band aus diesem Bestand, der ab 1934 in der Kasseler Landesbibliothek verwahrt worden war, vom Bundesarchiv Berlin an die Universitätsbibliothek – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel zurückgegeben.

Mit der Beschlagnahmung und unrechtmäßigen Aneignung einer größeren Zahl von Aktenstücken, Sitzungsniederschriften, Vorträgen und ähnlichem Schriftgut aus dem Bibliotheksbestand der Walkemühle durch die Kasseler Gestapo erreichte im Februar 1936 die Verfolgung und Drangsalierung der bis 1933 auf der Walkemühle ansässigen Philosophisch-Politischen Akademie (PPA) und des mit dieser verbundenen Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) einen weiteren vorläufigen Höhepunkt.
Schon wenige Wochen nach Hitlers Machtergreifung hatten Polizei und SA-Angehörige im Frühjahr 1933 mehrfach die Gebäude des Landerziehungsheims Walkemühle bei Melsungen-Adelshausen durchsucht, das sie als Hort des internationalen Kommunismus ansahen und infolgedessen auch Waffen und illegale Literatur vermuteten.
Die Geschichte der Walkemühle
Das Konzept des Anfang der 1920er Jahre gegründeten Landschulheims auf der Walkemühle fußte seit dem Winter 1924/25 ganz auf den pädagogischen und philosophischen Idealen des Mathematikers und Philosophen Leonard Nelson (1882-1927). Neben einer wachsenden Zahl von Kindern, die im Landerziehungsheim unterrichtet wurden, durchliefen zwischen Frühjahr 1924 und Ende 1931 auch zahlreiche junge Erwachsenen die verschiedenen Schulungen in der ‚Erwachsenenabteilung‘ der Walkemühle. Diese fungierte erst als Kaderschmiede des von Nelson 1917 zusammen mit seiner Lebensgefährtin Minna Specht gegründeten Internationalen Jugendbundes (IJB). Später (nach dem Ausschluss der IJB-Mitglieder und Nelsons aus der SPD) dann als Schulungszentrum für die Funktionäre seiner Neugründung, dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK), bevor sich der ISK ab 1931 von Berlin aus verstärkt dem politischen und publizistischen Kampf gegen den erstarkenden Nationalsozialismus zuwandte.
Bereits am 14. März 1933 wurde das Landerziehungsheim von SA und Polizei besetzt, die Bewohner erst unter Hausarrest gestellt und bald ganz vertrieben, bevor in den Räumlichkeiten am 1. Juli 1933 eine Funktionärsschule der Nationalsozialisten eröffnet wurde.
Der Widerstand gegen die Nationalsozialisten
Seither hatten die Nationalsozialisten versucht, auch die rund 4.500 Bände umfassende Bibliothek auf der Walkemühle unter ihre Verfügungsgewalt zu bekommen, was jedoch durch den zähen Widerstand des Landrats Heinrich von Gagern (Zentrumspartei) und den Direktor der Landesbibliothek in Kassel Dr. Wilhelm Hopf vereitelt wurde. Es gelang beiden im Herbst 1934 sowohl die Bibliotheksbestände als auch größere Mengen an Schriftstücken und Drucksachen aus der Walkemühle in die Landesbibliothek zu überführen, wo diese umgehend bibliothekarisch bearbeitet wurden.
Jedoch wurde das Fridericianum in Kassel, in dem sich die Landesbibliothek befand, in der Nacht vom 8. auf den 9. September 1941 bei einem großen Brandbombenangriff komplett zerstört. Unter den rund 350.000 Büchern, die damals in den Flammen untergingen, befanden sich auch die Bände und Schriftstücke aus der Walkemühle, die zwischenzeitlich in den Bibliotheksbestand integriert worden waren.
Es scheint wie eine Ironie der Geschichte, dass infolgedessen nur jene Stücke aus Bibliothek und Archiv der Walkemühle den Krieg hatten überdauern können, die entweder bereits vor 1934 entfernt worden waren, oder deren Übergabe aus dem Bestand der Landesbibliothek Kassel 1936 auf Weisung der Berliner Gestapo erzwungen worden war. Das Gestapo-Archiv verbrachte die Rote Armee 1945 aus Berlin nach Moskau, von wo aus das erhaltene Material Ende der 1950er Jahre zurück nach Potsdam an das Zentrale Staatsarchiv der DDR gelangte, das wiederum 1990 im Bundesarchiv (Standort Berlin) aufging.
Der Restitutionsfund
Bei dem jetzt aus dem Nachlass Nelson im Bundesarchiv Berlin restituierten Stück handelt es sich um ein schmales Typoskript im A4-Format, das auf dem Vorderdeckel den stark verblassten Titel „Die Walkemühle“ trägt. Das Titelblatt zeigt den Stempel der Kasseler Landesbibliothek am Friedrichsplatz sowie eine Zahlenfolge die belegt, dass der Band 1934 in den Bestand der Landesbibliothek aufgenommen worden war.


Drei verschiedene Signaturen auf dem Vorderdeckel legen Zeugnis ab von der wortwörtlich ‚bewegten‘ Geschichte des Bändchens in den vergangenen 88 Jahren: von Adelshausen über Kassel nach Berlin, Moskau, Potsdam und Berlin zurück nach Kassel.
Das mit orangefarbenem Stickgarn sorgfältig in einen grauschwarzen Aktendeckel geheftete Stück enthält neben der programmatischen Rede „Die Arbeit der Walkemühle“ von Hellmut Rauschenplat aus dem Jahr 1929 auch ein etwa gleichstarkes Konvolut mit Erinnerungen der Lehrerin Anna Stein aus etwa derselben Zeit.
Einblicke in die Walkemühle
Bei Hellmut Rauschenplats Text handelt es sich um seine Ansprache vom 16. Juni 1929 anlässlich der Eröffnung der sechsten Sommerakademie des ISK. Zu Beginn des dreijährigen Kurses erinnert er an den schon 1927 verstorbenen Gründer des ISK Leonard Nelson sowie an dessen kürzlich verstorbenen Vater Heinrich, der seine letzten Lebensjahre auf der Walkemühle verbrachte und dessen Tod eine große menschliche Lücke in der Gemeinschaft hinterlassen hat.
Rauschenplat, der gemeinsam mit dem Mathematiker Gustav Heckmann (1898-1996) als Tutor des neuen Kurses fungieren wird, stimmt in seiner Rede die Neulinge auf das ein, was sie in der nun folgenden Erprobungszeit und darüber hinaus erwarten wird. Im Zentrum steht hierbei die Verpflichtung des Einzelnen auf die Gruppe, dem das Kollektiv zum zentralen Bezugspunkt allen Verhaltens werden soll, sowie die Verpflichtung auf die nun folgende andauernde Erprobung der jungen Kader. Diese sollen ihre Gruppentauglichkeit u.a. durch den Verzicht auf Außenkontakte (insbesondere zur Familie) und das Verbot, sich in enge Freundschaften mit einzelnen oder wenigen zu begeben, aber auch durch Arbeitseinsätze in praktischer Arbeit beweisen. Auch die obligate Schulung der jungen Leute in staatswissenschaftlichen und historischen bis hin zu naturwissenschaftlichen Themen wird angesprochen, da sie die Schüler auch theoretisch rüsten soll für den kommenden Kampf um die Durchsetzung der ‚Herrschaft des Rechts‘.
Angebunden an Rauschenplats Text finden sich sechs episodische „Erlebnisse aus der Walkemühle“ der Mathematik- und Physiklehrerin Anna Stein. Darin schildert sie einprägsam und in sehr persönlichem Ton Situationen und Erlebnisse im Kreis der ISK-Schüler und Genossen, die interessanten Einblick in die Denkstrukturen und die Gruppendynamik der linkssozialistischen Gemeinschaft auf der Walkemühle geben.
Lebenswege in der Geschichte
Der studierte Jurist und Staatswissenschaftler Rauschenplat (1896-1882), war von 1923 bis 1931 Lehrer für Ökonomie in der Erwachsenenabteilung der Walkemühle. Nach deren Auflösung ging er als Redakteur ISK-Zeitung ‚Der Funke’ in den aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus nach Berlin. Nach der Machtergreifung arbeitete er im Untergrund und floh 1937 unter seinem späteren Namen Fritz Eberhard über die Schweiz und Frankreich nach London, wo sich die Führungsgruppe des ISK schon seit längerem befand. 1939 trennte er sich vom ISK, arbeitete als Redakteur des englischen Rundfunks und kehrte 1945 zurück nach Deutschland. Als Mitglied des Parlamentarischen Rats wirkte er an der Schaffung des Grundgesetzes mit, war 1949-1958 Intendant des Süddeutschen Rundfunks und schließlich Publizistikprofessor in Berlin.
Anna Stein (1894-nach 1955), geboren als Tochter eines Hamburger Kaufmanns in Brasilien, studierte von 1915-1921 Mathematik und Physik, beendete 1923 ihre Ausbildung zur Gymnasiallehrerin und promovierte 1925 mit einer zahlentheoretischen Arbeit in Mathematik. Seit Frühjahr 1925 arbeitete sie als Lehrerin in der Walkemühle. Stein, die der Hamburger Gruppe des ISK angehört hatte, verließ spätestens 1931 die Walkemühle. Wohin sie von dort aus ging, ist bislang nicht nachzuvollziehen. Im Herbst 1938 wanderte Stein in die USA aus, wo sie in mehreren nördlichen Bundesstaaten bis mindestens 1955 in mathematischen Forschungsprojekten beschäftigt war bzw. an verschiedenen Colleges Mathematik lehrte.
Ein Beitrag von Dr. Brigitte Pfeil

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