Speech acts: John Searle’s Kassel lecture online

Prof. John Searle

Professor John Searle an der Uni Kassel: Er gehört zu den einflussreichsten Philosophen der Gegenwart.

Sprechen bedeutet handeln. Sprache beschreibt nie nur Wirklichkeit, sondern produziert sie. Zum Beispiel Geld. Sprachakte als soziale Handlungen zu verstehen, das ist ein Verdienst des US-amerikanischen Philosophen John Searle. Seine Vorlesung zum Thema „Language and Social Ontology“, die er am 30. Mai an der Universität Kassel gehalten hat, ist jetzt auf dem Hochschulschriftenserver KOBRA als MP3 abrufbar. Die Kassel lecture kann man als grundlegende Einführung in sein Denken hören. Searls Ansatz, Sprache als konstitutiv für die soziale Wirklichkeit zu beschreiben, macht ihn über die Philosophie und Linguistik hinaus interessant, vor allem für die Sozialwissenschaften. Seine Vorlesung im voll besetzten Hörsaal I (450 Plätze) hatte jedoch nicht nur inhaltlich ihre Reize.

Doch bevor ich auf die Searlsche Gesamtperformance komme, noch ein paar Gedanken zum Thema Geld. Menschen leben in zwei verschiedenen Welten, in der physischen und der mentalen Welt, führte Searle seine Vorlesung ein. „There is a class of objective facts in the world that only are what they are because of subjective human agreement“, so Searle. Eine Regierung gehört zum Beispiel dazu, die Institution der Ehe und auch das Geld. Diese Institutionen werden erst durch deklarative Sprechakte ins Leben gerufen. Das heißt: Der Wert des Geldes beruht nicht auf seiner physischen Qualität (von den aus der Mode gekommenen Goldmünzen einmal abgesehen), sondern auf einer kollektiven Vereinbarung.

Mit Hilfe der Sprache werden Menschen und Objekten Funktionen zugschrieben („status function declaration“). So wurde ein Mensch wie Barack Obama in einem offiziellen Akt zum Präsidenten der USA erklärt. Und bunte Papierscheine und flache runde Metallstückchen aus Nickel und Kupfer bekommen in 17 Staaten per Vertrag den Status Geld mit Namen „Euro“ zugeschrieben. Wie stark der Wert des Geldes auf sozialer Konvention, d. h. auf Vertrauen beruht, wird in der aktuellen Euro-Schuldenkrise deutlich. Das Vertrauen kann entzogen werden, wie wir es zum Beispiel an den Deklarationen der Ratingagenturen sehen. Die Regierungen sind wiederum bemüht, durch Sprechakte in Form von Verhandlungen, Verträgen und Gesetzen neues Vertrauen zu kreieren.

Mit Jokes wie „Americans are always surprised, that monopoly money works in foreign countries“, hatte Searle die Lacher auf seiner Seite. Der Spruch ist herrlich vieldeutig, da er sowohl die Abhängigkeit der Institution des Geldes von der gesellschaftlichen Konvention deutlich macht, als auch auf die hegemoniale Rolle des Dollars als Weltleitwährung anspielt. Auch deutsche Vokabeln wie „Geist“ für  „mental world“ und „Fleisch“ für „physical world“ kamen sehr gut an. Zwischendurch wurden die Zuhörer jedoch abgelenkt, als John Searle auf dem Podium auf und ab ging und zentrale Begriffe an der Tafel notierte. Immer wieder stolperte der betagte Philosoph, ganz in Gedanken, über einen Pömpel, der einige Zentimeter aus dem Boden ragte. Unfreiwillig führte er damit ein universitäres „Dinner for One“ auf. Sie erinnern sich: Butler James (Freddi Frinton) serviert seiner Arbeitgeberin Miss Sophie (May Warden) zum 90. Geburtstag indische Hühnersuppe und Champagner und stolpert immer wieder über den Kopf eines ausgelegten Tigerfells. Jedes Mal, wenn Searle über den Pömpel stolperte und sich wieder fing, ging ein Raunen durch den Hörsaal. Alle waren erleichtert, als jemand auf das unselige Gerät einen Stuhl stellte. Der charismatischen Vorlesung tat der bizarre Pömpel-Zwischenfall keinen Abbruch. Im Gegenteil.

Der Vollständigkeit halber muss noch gesagt werden, dass die Theorie der Sprechakte auf den britischen Philosophen John L. Austin (1911-1960) zurückgeht. Searle hatte bei Austin in Oxford studiert und den Ansatz weiterentwickelt.

John Searle unterstützt den Open-Access-Gedanken. Er war gerne bereit, die Vorlesung auf KOBRA (Kasseler OnlineBibliothek, Repository und Archiv) zu publizieren. Wie auch bei schriftlichen Veröffentlichungen ist die Aufzeichnung langzeitarchiviert und zitierfähig. Die mäßige Tonqualität ist dem großen Hörsaal und dem Charisma Searles geschuldet, der sich mit dem Mikrofon viel bewegt hat. Es lohnt sich aber auf alle Fälle, auch noch die anschließende Diskussion mit den Kasseler Studenten zu hören.

Übrigens, der bliebteste deklarative Sprechakt ist sicher dieser: „Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau.“

Prof. Dr. John Searle (*31.07.1932) lehrt, trotz fortgeschrittenen Alters, mit vollem Deputat an der University of California in Berkeley. 1969 wurde er mit seinem Werk „Speech Acts“ schlagartig bekannt. Sein jüngstes Buch trägt den Titel „Wie wir die soziale Welt machen. Die Struktur der menschlichen Zivilisation“. Searle kam auf Einladung des Germanisten Prof. Dr. Andreas Gardt nach Kassel.

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