Die Handexemplare der Kinder- und Hausmärchen – seit 20 Jahren Weltdokumentenerbe und seit 10 Jahren in der Grimmwelt ausgestellt

In 2025 begehen das Museum „Grimmwelt“ und die sogenannten Handexemplare der Kinder- und Hausmärchen (KHM) der Brüder Grimm ein zweifaches Jubiläum: Zehn Jahre sind die vor zwanzig Jahren als Weltdokumentenerbe ausgezeichneten Bände der ersten und zweiten Auflage nun in der Grimmwelt ausgestellt. Bei einem Festakt anlässlich des doppelten Jubiläums gratulierte auch die Universitätsbibliothek Kassel:

Bild: UB/LMB Kassel

Die gedruckten, mit Kommentaren der Brüder versehenen fünf Bände tragen auch den Stempel der alten Landesbibliothek am Friedrichsplatz und gemeinsam mit der Stadt Kassel und der Grimmwelt sorgt die Universität für diese einzigartigen Zeugnisse. Dieses „gemeinsame Sorgerecht“ steht im Vordergrund und trotzt allen Kontroversen um Eigentum und Besitz. Gemeinsam mit anderen überwiegend hessischen Kooperationspartnern übernimmt die Universitätsbibliothek Kassel auch Mitverantwortung für die Grimmsammlungen an verschiedenen Orten: Mithilfe der Digitalisierung in der Bibliothek und der Präsentation von digitalen Grimmiana der Partner über das dort gehostete Grimmportal, wird Zugang für die Forschung und die Vermittlung an alle Interessierten ermöglicht. Das geschieht aus traditionsbewusstem geistesgeschichtlichen Selbstverständnis und aus gesetzlichem Auftrag:

Zu ersterem gehört, dass die Kasseler Bibliothekar:innen sich der mächtigen beruflichen Traditionslinie bewusst sind. Jacob und Wilhelm Grimm waren Bibliothekare in der kurfürstlichen Bibliothek – der Keimzelle der heutigen Landesbibliothek. Sie waren intrinsisch hochmotivierte Kollegen und es berührt nach wie vor sehr, wenn im alten Zettelkatalog, der ein Verzeichnis des Untergegangenen ist, weil nahezu alle Bände 1941 im Fridericianum verbrannten, handschriftliche Einträge der berühmten Brüder erkennbar werden. Die Brüder Grimm sahen ihre Tätigkeit in der Bibliothek als höchst erfüllend an, sie bezeichneten sie als „ruhigste, arbeitsamste und vielleicht auch die fruchtbarste Zeit“ ihres Lebens. Sie ließ ihnen viel Raum und Zeit für ihre Forschungsinteressen: Der Lesesaal im Fridericianum war nur drei Stunden am Tag geöffnet, den Rest des Tages konnten sich die Bibliothekare frei einteilen. Nur wenige Besucher störten die Konzentration, sie wurden stets höflich behandelt und herumgeführt, um die natur-, kultur- und kunstwissenschaftlichen Schätze im Museum und in der Bibliothek zu präsentieren.  Lästig war ihnen bei Amtsausübung allerdings, dass sie sich „ins ungeliebte höfische Kostüm zwängen, den gestickten Rock überwerfen, den Federhut aufsetzen und den Degen anschnallen“ mussten.

Die Grimms waren Forschungsbibliothekare:  sie arbeiteten mit dem Handschriften- und Bücherbestand, verwalteten ihn sehr sorgfältig und insbesondere indem sie interessengeleitet gezielt Erwerbungen vornahmen.  Und ihre Forschungsergebnisse – wie sie in den Handexemplaren der gesammelten Kinder- und Hausmärchen augenscheinlich wurden – nahmen hier ihren Anfang und dann ihren Weg durch die Welt. Was für ein Glück für die Grimms, was für ein Glück für Kassel und die Grimmwelt. Aber nur das Märchen – so formuliert es Jacob Burckhardt – nimmt einen sich gleichbleibenden Zustand für Glück, nachdem böse Hexen und Zauberer o.ä. besiegt sind. Verharrte man ansonsten im jeweiligen Zustand würde Erstarrung eintreten. Und das gilt es zu vermeiden, insbesondere auch bezüglich des zweiten, gesetzlichen Auftrages einer Regionalbibliothek: Die heutige Abteilung Landesbibliothek in der Universitätsbibliothek erledigt regionalbibliothekarische Aufgaben, die im hessischen Bibliotheksgesetz festgeschrieben sind: Sie sammelt pflichtgemäß alle Publikationen, die in Kassel und um Kassel und bezüglich Nordhessen erscheinen. Sie bewahrt das schriftliche Gedächtnis als kulturelles Erbe der Region, erschließt Materialien und ermöglicht Zugang. Gemeinsam mit den vier anderen hessischen Landesbibliotheken erstellt sie die Landesbibliographie – eine Wissensdatenbank über Hessen, über die Landschaften, Orte und Menschen.  Das nüchterne Gesetz bindet mit dem Auftrag und sorgt für eine finanzielle Grundzuweisung.  Angesichts von über 10.000 Handschriftendokumenten, einer reichhaltigen Musikaliensammlung, über hundert Nachlässen und Spezialbeständen aller Art ist allerdings ein Bewahren und Erschließen mit den aktuellen Ressourcen ein mühseliges, generationendauerndes Unterfangen, deutlich mehr noch als ein jedes Akademieprojekt.

Selbstverständlich gehören Bemühungen um Fördermittel zur Strategie: Zum einen werden jährlich Anträge auf Bundesmittel über die Koordinationsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturgutes (KEK) gestellt, zum anderen werden Anträge an das Landesprogramm zur Bestandserhaltung, im Rahmen der neuen ministerialen Förderlinie an „Kultur digital“, bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Hessischen Kulturstiftung, der Sparkassenkulturstiftung und anderen Stiftungen gestellt. Die eingeworbenen Summen sind überschaubar, aber werden nachhaltig und zielbewusst eingesetzt: Für beispielsweise Entsäuerungsmaßnahmen des Pflichtbestandes oder wie aktuell voraussichtlich für technische Ausstattung, die wir auch den Kooperationspartner zur Verfügung stellen wollen. Es ist wichtig, dass wir nicht in einer Art Elfenbeinturm ohne Bezug zu einem Umfeld, das über die schöne, besondere Kasseler Museumsinsel hinausgeht, agieren. So engagiert sich die Landesbibliothek im Nordhessischen Notfallverbund, der hoffentlich nie tätig sein muss. Ebenso wie hoffentlich niemals die Haager Konvention zum Kulturgutschutz hier praktische Anwendung findet.  Allerdings bringt auch der Klimawandel große Herausforderungen für Museen und Archive mit. Die Notwendigkeit der Ertüchtigung des beeindruckend funktionalen und ästhetisch ansprechenden Gebäudes, in dem die Grimmwelt ihr Zuhause hat, ist nicht anzuzweifeln. In der Murhardschen Bibliothek mussten große finanzielle Investitionen aus eben diesen Gründen getätigt werden: Aus Sorge um einzigartige Originale, um Kulturgut, das Schutz einfordert. Es ist mitnichten so, dass hochwertige Digitalisate das Original überflüssig machen. So ist ein Buch als Druckwerk oder als handschriftlicher Kodex unabhängig vom Inhalt, ein Wissensobjekt und ein Wissensträger durch seine Materialität und Medialität. Kunstwerke und Kulturgüter im Original besitzen neben ihrem ästhetischen Wert durchaus eine Aura, die sie prädestiniert, besondere Vermittlungsfunktion zu übernehmen – für das eigene kulturelle Selbstverständnis und den kulturellen Austausch. Und verfügen sie – wie die Handexemplare – gar noch über Annotationen, dann sind sie außerdem eine wertvolle Quelle der Textkritik und geben Texten bzw. Büchern eine einzigartige Geschichte. In Zeiten, in denen „Künstliche Intelligenz“ Bilder und Texte mühelos erzeugt, ergeben sich akute Verifizierungsprobleme:  Zeugenschaft und Wahrheit liefert dann ein Original als Faktum. Kürzlich ging durch die Presse, dass die Bibliothek der Harvard-University eine Kopie der Magna Charta irrtümlich als neuzeitliche Kopie – für 27 Dollar in 1946 gekauft – eingeschätzt hat (im Katalog als abgerieben und feucht beschrieben). Zweifel stellten sich im Frühjahr 2025 bei der Analyse des Digitalisates ein. Mithilfe neuer Untersuchungen am Original wurde belegt, dass es sich um eine der sieben authentischen Kopien bzw. Ausgaben um 1300 handelt – Wert: ca. 21 Mio. Dollar. Die Harvard University besitzt nun eine authentische Magna Charta-Urkunde, ausgehend von 1251, in der festgeschrieben steht, dass kein Herrscher über dem Gesetz steht.

Bedeutsames Kulturgut zu schützen und zu respektieren ist das Kernelement der schon erwähnten Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten. Getreu dem Motto „man kann nur schützen, was man kennt“, muss Kulturgut im Sinne der Haager Konvention identifiziert werden – und das bereits in Friedenszeiten. Auf diese Weise können sie im Vorfeld in Zivil- und Katastrophenschutzmaßnahmen mitgedacht und geschützt werden. Das geschieht auf mehreren Wegen – die Klassifizierung als Weltdokumentenerbe ist aber eine der besonders starken, nachhaltigen Identifikationsmarken.

(Basierend auf der Rede vom 17.06.2025 in der Grimmwelt zum Festakt „10 Jahre Grimmwelt, 20 Jahre Weltdokumentenerbe“, Ltd. Bibliotheksdirektorin C. Martin-Konle)

Ein Beitrag von Claudia Martin-Konle


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