2011 haben wir damit begonnen, nach und nach unsere wertvollen Altbestände für Forschende und andere Interessierte über ORKA digital und ohne Zugriffsbeschränkungen zur Verfügung zu stellen. Von unter 10 präsentierten Objekten, mit denen damals das Portal startete, haben wir nun die Marke von 25.000 erreicht.
Und so blicken wir zurück auf fast anderthalb Jahrzehnte, in denen sich unter anderem unsere kleine ‚Fotowerkstatt‘ zu einer hochprofessionellen und modern ausgestatteten ‚Digitalisierungswerkstatt‘ entwickelt hat und ORKA zu einer festen Größe in unserem digitalen Angebot wurde. Doch nicht nur unsere technischen Möglichkeiten haben sich in dieser Zeit deutlich verbessert. Auch das Tempo, in dem wir Handschriften, Musikalien, Briefnachlässe, Postkarten und anderes online stellen können, hat (dank personeller Zuwächse) inzwischen merklich zugenommen. – Die 50.000er Marke werden wir also hoffentlich nicht erst in weiteren 14 Jahren erreichen!
Um unser ‚Jubiläum‘ gebührend zu würdigen, haben wir als Objekt Nummer 25.000 eine absolute Rarität ausgewählt, die aus der umfangreichen ‚Spohr-Sammlung‘ der Kasseler Landesbibliothek stammt.

Louis Spohr (1784-1859) wurde 1822 als Hofkapellmeister nach Kassel berufen. Als solcher wirkte er fast vier Jahrzehnte am kurfürstlichen Hof und war darüber hinaus international als Komponist und Geigenlehrer berühmt. Innerhalb kürzester Zeit formte Spohr das Kasseler Musiktheater zu einem der besten in Mitteleuropa und hob durch die Gründung verschiedener Chöre und die Förderung von Kammermusikaufführungen in (halb)privatem Rahmen auch die bürgerliche Musikkultur der Stadt auf ein neues Niveau.
Louis Spohr vor 1850 (Wikimedia Commons)
Ein Teil seines musikalischen Nachlasses und seines Briefwechsels wird heute von der Landesbibliothek betreut. In diesem Bestand haben sich sechs unscheinbare Täfelchen, etwa von der Größe eines Fotoabzugs (10 x 16 cm), erhalten. Diese Tafeln verfügen auf ihrer Vorder- und Rückseite über jeweils 6 Notensysteme und sind mit einer honigfarbenen wachsartigen Masse beschichtet. Auf ihnen finden sich kurze Melodienskizzen und andere musikalische Notate, die teils gut sichtbar mit Bleistift geschrieben, teils aber auch nur noch als schwache Abdrücke erkennbar sind.

Entwürfe für einen Kanon (2° Ms. Mus. 1500[Sp. 80,3: Vorderseite) – Foto: UB/LMB Kassel
Und auch wenn die Notate nach Auskunft von Dr. Karl Traugott Goldbach (der als Leiter des Spohr-Museums und -Archivs mit Spohrs Handschrift bestens vertraut ist) wohl nicht von Louis Spohr selbst stammen, ist die schiere Existenz dieser Täfelchen doch äußerst bemerkenswert. – Weltweit war bislang nämlich nur ein einziges vergleichbares Stück in der Berliner Staatsbibliothek aus dem Nachlass des Komponisten Carl Maria von Weber (+ 1826) bekannt.
Dass weitere Nachweise fehlen, ist jedoch nicht weiter verwunderlich, handelt es sich bei diesen Notations-Platten doch um Objekte des täglichen Gebrauchs. Das Material selbst ist eher flüchtig und von geringem materiellem Wert; denn wie die Berliner Platte so bestehen auch die Kasseler Täfelchen wohl aus Pergament, das mit einer Grundierung überzogen wurde, in die die Notenlinien erst eingeritzt und dann geschwärzt worden waren (so ergab es die technische Analyse des Stücks in Berlin). Darüber befindet sich die wachsartige Beschreibschicht, auf der mit Bleistift Kompositionsversuche unternommen, musikalische Ideen skizziert und Melodien notiert werden konnten, bevor das weiche Graphit schlussendlich mit befeuchtetem Finger oder angefeuchtetem Schnupftuch leicht von der glatten Oberfläche zu entfernen war. Eine solche Tafel nutzte sich daher zwangsläufig im täglichen Gebrauch ab, wurde unbrauchbar und endete schließlich im Abfall, sodass keine Spur von ihr zurückblieb.
Wie und warum die sechs bemerkenswerten Täfelchen in das Konvolut unserer Spohr-Sammlung gelangt sind, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Doch vielleicht ist das auch gar nicht so wichtig, denn ‚für die Ewigkeit‘ waren diese musikalischen Gedankenstützen, Notizen, Skizzen und Kompositionsversuche ja sowieso niemals gedacht.
Ein Beitrag von Dr. Brigitte Pfeil

Dieser Beitrag – ausgenommen Zitate und anderweitig gekennzeichnete Teile – ist unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung International (CC BY 4.0) lizenziert.
Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.