Die Murhardsche Bibliothek schließt ihren Tresor mit den kostbarsten Handschriften. Grund sind Umbauarbeiten. Die Sammlung, die 40 Jahre lang Bestand hatte, wird aufgelöst und ist in dieser Form nicht mehr zu sehen. Die gute Nachricht: Viele Stücke sind bereits digitalisiert und auf dem Dokumentenserver ORKA abrufbar. Wir suchten jedoch die Originale noch einmal auf und waren bei der letzten Führung in den „Katakomben“ dabei.
Gründonnerstag, 4. April. Es ist bereits kurz nach 15 Uhr. Am Haupteingang der Murhardschen Bibliothek führen rechts einige Treppenstufen in den Keller. Zwei Männer vom Wachschutz kontrollieren den Zugang. Sicherheit wird hier groß geschrieben. Im Keller haben sich mehr als 30 Besucher zu einer denkwürdigen Führung eingefunden. Trotz des Gedränges liegt eine erwartungsvolle Spannung in der Luft.
Die große Panzertür zu einem Raum mit schummerigem Licht steht offen. Sechs dicke Stahlriegel ragen silbrig aus der Panzertür heraus. Der Raum, der die Neugier der Besucher erregt, ist die „Schatzkiste“ der Bibliothek mit 42 der wertvollsten Handschriften, die sich im Haus befinden. „Kommen Sie bitte im Vorraum zusammen. Ich will Ihnen eine kurze Einführung in die Geschichte der Sammlung geben“, sagt eine Frau, die ein Namensschild an ihrem Pullover trägt. Es ist die Handschriften-Expertin Dr. Brigitte Pfeil. Nach einigen Erläuterungen bittet sie in den Tresor. Wir stehen zwischen den Vitrinen, die alte Bücher und Handschriftenfragmente aus dem 8. und 9. Jahrhundert beherbergen, aber auch Kostbarkeiten aus der Zeit der Renaissance.
„Im Mittelalter war das ein absoluter Renner. Da ist alles dabei: Liebe, Trennung und Krieg“, erzählt die Expertin von der Handschriftenabteilung der Murhardschen Bibliothek. Sie steht vor dem Willehalm-Kodex und erklärt die Bedeutung der kunstvoll illustrierten Schrift aus dem 14. Jahrhundert. „Danach war in Sachen Buchproduktion am Hof der hessischen Landgrafen lange Zeit tote Hose“, sagt sie. Plötzlich klingelt ein Telefon. Brigitte Pfeil unterbricht die Führung und geht an den alten Wandapparat, der noch eine klassische Wählscheibe hat. „Nein. Sie sind falsch verbunden.“ Doch durch diese Störung lässt sich die Expertin nicht aus dem Konzept bringen und fährt mit der Führung fort.
„Das Stück hier vorne rechts sieht völlig unspektakulär aus. Tatsächlich ist es aber absolut spektakulär.“ – „Wo denn?“, ruft plötzlich ein Besucher und reckt den Hals. Brigitte Pfeil zeigt noch einmal auf die Vitrine mit dem Hildebrandlied. Die Aura des Originalkunstwerks ergreift uns geheimnisvoll. Leise surrt die Belüftungsanlage. Irgendwann zwischen den Jahren 830 und 840 hat sich der unbekannte Autor genau über dieses Schriftstück gebeugt und arbeitete an den poetischen Heldenversen. Und wir erfahren: Es gibt praktisch keine andere zusammenhängende Schrift mit germanischer Heldendichtung in althochdeutscher Sprache. Mit diesem Papier haben wir einen Zugang zu den Ursprüngen der deutschen Sprache. „Ik gihorta dat seggen – Ich hörte berichten“, beginnt die Dichtung. Die Gebrüder Grimm haben den Wert des Hildebrandliedes erkannt und der Forschung durch ihre Edition des Textes erst wirklich zugänglich gemacht. „Ohne Kassel mit den mittelalterlichen Handschriften und den Gebrüdern Grimm wäre die moderne Germanistik gar nicht denkbar“, sagt Brigitte Pfeil.
Um 16.40 Uhr fällt die wuchtige Panzertür zur Kasseler Wunderkammer zu – für immer. Die von dem Historiker Professor Hartmut Broszinski vor 40 Jahren realisierte Ausstellung wird aufgelöst. Die Schriften dürfen sich erholen, denn jedes Umblättern und jedes Licht lässt sie weiter altern. Der Willehalm-Kodex kommt ganz unter Verschluss. „Er stand 40 Jahre unter Stress“, so Brigitte Pfeil. Dafür sollen künftig verstärkt andere Handschriften der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, die bisher nicht zu sehen waren. Mit dem Umbau der Murhardschen Bibliothek entsteht bis 2015 ein neuer Ausstellungssaal mit moderner Technik.
Ganz stressfrei sind jedoch viele Handschriften aus dem Tresor weiterhin über ein elektronisches Archiv der Universitätsbibliothek zu sehen: das Open Repository Kassel (ORKA). Die nachfolgende Liste bietet einen Überblick über alle (ehemaligen) Ausstellungsstücke des Tresors mit den dazugehörigen Signaturen. Diejenigen Exemplare, die auf ORKA digitalisiert wurden, können mit einem Mausklick auf die Signatur aufgerufen werden.
Die Handschriften des Zimelien-Tresors der Murhardschen Bibliothek:
Signatur | Handschrift | |
1 | 2° Ms. theol. 54 | Hildebrandlied (9. Jh.) |
2 | 2° Ms. theol. 65 | Flavius Josephus: Bello iudaico (6. Jh.) |
3 | 4° Ms. theol. 24 | Kasseler Glossen (9. Jh.) |
4 | [Leihgabe aus Immenhausen] | Gutenbergbibel (15. Jh.) |
5 | 2° Ms. theol. 60 | Abdinghofener Evangeliar (10. Jh.) |
6 | 2° Ms. poet. et roman. 3 | Boccaccio: Il Filocolo (15. Jh.) |
7 | 2° Ms. theol. 4 | Rudolf von Ems: Weltchronik (14. Jh.) |
8 | 2° Ms. philol. 2 | Tironische Noten (um 800) |
9 | 2° Ms. theol. 29 | Augustinus / Cassiodor (um 900) |
10 | 2° Ms. poet. et roman. 1 | Willehalm-Codex (14. Jh.) |
11 | 2° Ms. phys. 10 | Ps.-Apuleius, Ps.-Antonius Musa: Pflanzenbücher (9. Jh.) |
12 | 8° Ms. theol. 5 | Apokalypse. Caesarius von Arles (8. Jh.) |
13 | 4° Ms. math. 50 | Gebetbuch Herzog Johann Albrechts (15. Jh.) |
14 | 2° Ms. astron. 1 | Passauer Calendar (15. Jh.) |
15 | 2° Ms. theol. 22 | Hieronymus: Bibelkommentare (Irland, 8. Jh.) |
16 | 4° Ms. Hass. 115 | Wigand Gerstenberg: Landeschronik (16. Jh.) |
17 | 4° Ms. theol. 15 | Graduale Kaiser Heinrichs bzw. Kaiserin Kunigundes (11. Jh) |
18 | 2° Ms. chem. 21 | Splendor Solis (16. Jh.) |
19 | 4° Ms. poet. et roman. 5 | Kasseler Totentanz (15. Jh.) |
20 | 2° Ms. philol. 15b | Glosse ‚thiutisce‘ (9. Jh.) |
21 | 2° Ms. Hass. 679 | Dilich: Landtafeln (17. Jh.) (1 Blatt) – in Kürze auf ORKA online |
22 | 4° Ms. poet. et roman. 6 | Petrarca: Rime (um 1500) |
23 | 4° Ms. astron. 5 | Kometenbuch (16. Jh.) |
24 | 4° Ms. Hass. 26 | Wigand Gerstenberg: Frankenberger Stadtchronik (16. Jh.) |
25 | 2° Ms. theol. 58 | Hersfelder Graduale und Sakramentar (12. Jh.) |
26 | 4° Ms. philol. 3 | Cicero / Boethius (11. Jh.) |
27 | 2° Ms. iur. 4[3 | Justinian: Digesten mit Accursischer Glosse (um 1300) |
28 | 2° Ms. astron. 7 | Hessisches Sternenverzeichnis (um 1590) |
29 | 4° Ms. theol. 35 | Psalterium mit herausragendem Bordürenschmuck ( 15. Jh.) -(1 Blatt) (Hs. hat insgesamt 246 Bl.) – in Kürze auf ORKA online |
30 | 2° Ms. theol. 114 | Fritzlarer Missale (15. Jh.) |
31 | 4° Ms. hist. 6 | Portolanatlas (16. Jh.) |
32 | 2° Ms. astron. 16 | Apian: Astronomicum – Handexemplar Landgraf Wilhelm (16. Jh.) |
33 | 2° Ms. med. 4 | Albucasis, Serapion iunior (14. Jh.) |
34 | 8° Ms. poet. et roman. 1 | Reinhart Fuchs (um 1200) |
35 | Ms. orient. 26 | Altägyptisches Totenbuch (um 300 v. Chr.) |
36 | 2° Ms. theol. 299 | Otloh-Bibel (um 1020/30) – (1 Blatt) |
37 | 2° Ms. philol. 28[3 | Hartmann von Aue: Iwein (14. Jh.) – (1 Blatt) |
38 | 2° Ms. poet. et roman. 30[9 | Wolfram von Eschenbach: Willehalm (14. Jh.) – (1 Blatt) |
49 | 8° Ms. poet. et roman. 12 | Ulrich von Türheim: Rennewart (14. Jh.) – (1 Blatt) |
40 | 2° Ms. poet. et roman. 30[7 | Wolfram von Eschenbach: Parzival (14. Jh.) – (1 Blatt) |
41 | 2° Ms. poet et roman. 30[3+4 | Reinmar von Zweter: Sprüche (14. Jh.) – (1 Blatt) |
42 | 2° Ms. poet. et roman. 30[1 | Reinmar von Zweter: Leich (14. Jh.) – (1 Blatt) |
Die Digitalisierung der noch nicht verlinkten Titel wird nach und nach erfolgen (letzte Ergänzung
01/2024).