Ein Gastbeitrag von Dr. Brigitte Pfeil-Amann (Leitung Abteilung IV: Landesbibliothek)
Handschriftliche Buchstabenformen folgen heute wie früher Moden und zeigen nicht nur zeittypische, sondern oft auch geographisch bedingte Unterschiede. Diese feinen Unterschiede in Form und Duktus macht sich die ‚Paläographie‘, die Lehre von den Formen und der Entwicklung von Schriften, zunutze, um undatierte historische Schriftstücke zeitlich einordnen zu können. Bis etwa in die Zeit der Reformation ist es Spezialisten möglich, das Alter einer Handschrift anhand ihrer Formsprache auf etwa ein Vierteljahrhundert genau zu bestimmen (danach wird der Zeitrahmen ‚unschärfer‘). – Vom legendären Paläographen Bernhard Bischoff (+ 1991) wird erzählt, dass er Schriften des 8.-12. Jahrhunderts (vor allem aus dem bayerischen Raum) nicht nur einzelnen Schreibwerkstätten, sondern sogar den darin tätigen einzelnen Schreibern zuordnen konnte.
Immer wieder hält die handschriftenkundliche Praxis insbesondere bei rituellen Texten und juristischen Fälschungen aber auch Fälle bereit, in denen von den Schreibenden ganz bewusst ‚altmodische‘ Schriftformen genutzt wurden, um Schriftstücken zusätzliche Würde oder historische Zeugniskraft zu verleihen. Derartige ‚Täuschungsmanöver‘ sind mit rein paläographischen und philologischen Methoden oftmals nur sehr schwer zu erkennen, sodass die betreffenden Objekte vielfach fehldatiert wurden. Ganz besonders kniffelig ist hierbei die Datierung von Pergamentschriftstücken, da das Trägermaterial auf den ersten Blick keine weitergehenden Rückschlüsse auf das Alter des Objekts erlaubt.
Zu den rituellen Texten, die streng normierte, stark historisierte und somit sehr schwer datierbare Schriftformen aufweisen, zählen Torarollen, die zudem traditionell nur auf Pergament geschrieben werden dürfen. Eine denkbar schlechte Ausgangslage also, um diese Handschriften allein mit paläographischen Methoden sicher zu datieren.
Sehr viel mehr Erfolg verspricht in diesen Fällen jedoch die Kombination von klassischen handschriftenkundlichen mit technisch-naturwissenschaflichen Untersuchungsmethoden, wie sie im vom BMBF geförderten Verbundprojekt ‚ToRoll: Materialisierte Heiligkeit‘ exemplarisch erprobt wird. Diese kommen aktuell bei der Torarolle, die sich in den Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Kassel befindet, zum Einsatz:
Nachdem die Judaistin Annett Martini von der FU Berlin die Torarolle vor einigen Wochen paläographisch untersucht hatte, um ‚verdächtige‘ Partien, wechselnde Schreiberhände und korrigierte Textstellen aufzufinden, die Hinweise auf das wahre Alter der Torarollen geben könnten, folgte in der vergangenen Woche die naturwissenschaftlich fundierte Untersuchung durch Zina Cohen und Ira Rabin vom Fachbereich Kunst- und Kulturgutanalyse bei der Bundesanstalt für Materialforschung und-prüfung (BAM) in Berlin.
Mit einem eigens für die Untersuchung der mittelalterlichen europäischen Torarollen in Berlin, Wolfenbüttel, Kassel, Bologna sowie dem Vatikan anfertigten Arbeitstisch mit Synchrotrongerät untersuchten die beiden Wissenschaftlerinnen die Tinte der historischen Objekte mit Hilfe der Röntgenfluoreszenzanalyse. Die hierbei ermittelten Spektren der Tinten, die epochentypische Merkmale zeigen, ermöglichen nicht nur eine genauere Datierung der verwendeten Tinten, sondern auch tiefere Einblicke in die zeitliche Abfolge der Entstehung dieser langen Rollen, die stets aus Einzelblättern zusammengesetzt sind. Ergänzt werden sollen diese Messreihen in Kürze noch durch eine C14 Analyse des Pergaments.
Bald werden wir also wissen, ob die ältesten Partien unserer Torarolle (2° Ms. theol. 1) tatsächlich – wie immer angenommen – noch aus dem 13. Jahrhundert stammen, oder vielleicht einfach nur so aussehen ‚als ob‘. Und vielleicht erhalten wir dadurch auch Hinweise auf den Weg, auf dem sie in die Sondersammlungen gelangt ist.
Fotos: Roy Blender (Universitätsbibliothek Kassel)