Dass Documenta-Künstler ihre Arbeit auf dem Hochschulschriftenserver der Universität Kassel veröffentlichen, ist wohl eher selten. Der Leiter der Gedenkstätte Breitenau, Gunnar Richter, ist auf der aktuellen dOCUMENTA (13) als Künstler mit dabei. Seine Dissertation mit dem Titel „Das Arbeitserziehungslager Breitenau“ hat er online auf KOBRA veröffentlicht und damit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sie ist das Ergebnis eines umfangreichen Forschungsprozesses, der mit der Gründung der Projektgruppe Breitenau und seiner ersten Präsentation begann, die nach 30 Jahren erstmals auf der Documenta zu sehen ist. Dabei verbindet Gunnar Richter schon eine lange Geschichte mit der weltweit bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst. In einem Gespräch vor seinem Pavillon in der Karlsaue erklärt Gunnar Richter sein Werk, das Verhältnis von Kunst und Politik und geht auf aktuelle Entwicklungen bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Breitenaus ein.
Wie sind Sie zu Ihrem Thema gekommen?
Kassels Stadtverordnetenversammlung hatte 1979 ein regionalgeschichtliches Forschungsprojekt an der Gesamthochschule angeregt. Ziel war eine Ausstellung über die Geschichte Kassels in der NS-Zeit. Ich war Mitglied der studentischen Projektgruppe Breitenau von Professor Dr. Dietfrid Krause-Vilmar und bin auf einen Hinweis des Ex-Häftlings Willi Belz auf einen Massenmord in Breitenau gestoßen. Ich habe mich dann entschieden, dem in meiner Examensarbeit nachzugehen.
Diese Arbeit ist jetzt im Pavillon zu sehen?
Ja. Da ich auch Kunst studiert hatte, wollte ich es anders machen. Daraus ist eine Ton-Bild-Diareihe entstanden, um den Forschungsprozess darzustellen. Studenten, Lehrer und Schüler sollten an anderen Orten ähnliches machen können. Ich hatte ein halbes Jahr recherchiert, Gespräche, Ortsbesuche und Archivgänge hinter mir und viele Informationen zusammen bekommen. Ich wollte nicht nur einfach mit der Schreibmaschine alles herunter tippen, Computer gab es damals noch nicht.
Wie kamen Sie in Kontakt mit der Documenta?
Die Diaserie war im Mai 1981 fertig. Ich bekam eine Einladung, sie bei der Documenta 7 1982 im Rahmen des Beuys-Programms der „Free International University (FIU)“ zu zeigen. Dahinter steckte das Konzept des erweiterten Kunstbegriffs von Joseph Beuys. Die Einladung gab uns, der Projektgruppe Breitenau, den Impuls, eine Ausstellung zu konzipieren. Diese wurde dann, jedoch außerhalb des Beuys-Programms, im August/September 1982 unter dem Titel „Erinnern an Breitenau 1933-1945“ in der Hochschule der Bildenden Künste, parallel zur Documenta, gezeigt.
Und dann hat Sie 30 Jahre später Carloyn Christov-Bakargiev (CCB) angerufen. Oder wie muss man sich das vorstellen?
CCB meinte: Da Breitenau für sie ein wichtiger Bezugspunkt ist, und es damals nicht realisiert wurde, lädt sie mich jetzt ein. Es ist auch eine Würdigung der Arbeit der Gedenkstätte. Als sie ihr Konzept entwickelte, war damit die Idee verbunden, Kassel und die Region in einer Weise einzubeziehen, wie das bisher noch nicht der Fall war. Die Documenta hat immer wie mit einem Raumschiff Kunst nach Kassel gebracht und war dann wieder verschwunden, aber Kassel als Stadt war kein Bezugspunkt. CCB wollte das ändern. Sie war bei ihrer Kassel-Recherche auf die Geschichte Breitenaus gestoßen. Die Gesamtgeschichte hat sie interessiert, weil Diskriminierung, Ausgrenzung, Gewalt, Terror und Krieg bis heute große Probleme darstellen. Es geht auf die Initiative von CCB zurück, dass in den vergangenen zweieinhalb Jahren über 100 Künstler in Breitenau zu Besuch waren. Ich habe dann in einer Vorbereitungsgruppe zur Documenta 13 mitgearbeitet, in der Maybe Education Group zu Fragen der Vermittlung und bei der Schulung der Companions.
Kommen wir auf den erweiterten Kunstbegriff zurück. Wie würden Sie das Verhältnis von Kunst und Politik beschreiben? Ist diese Documenta besonders politisch?
Das Konzept von CCB beruht meines Erachtens darauf, dass viele Ideen von Beuys in der Documenta einbezogen sind. Beuys formulierte den erweiterten Kunstbegriff etwa so: „Eine Gesellschaftsordnung zu formen wie eine Skulptur, das ist meine und die Aufgabe der Kunst.“ Hinter der Vorstellung, was Kunst heute leisten soll, steckt die Vorstellung, Kunst sollte einen Beitrag dazu leisten, die Welt, in der wir leben, kreativ-positiv zu verändern. Das heißt, dass auch Menschen aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen einbezogen werden. Die NS-Geschichte von Breitenau wurde jahrzehntelang verschwiegen und verdrängt. Unsere Projektgruppe wollte dazu beitragen, aufzuklären und in gewisser Weise zu heilen. Wie geht man mit den Opfern, den Tätern und dem Geschehen um? Unter diesem Blickwinkel gehört die Aufarbeitung der Geschichte zum erweiterten Kunstbegriff.
Wie erklären Sie sich, dass einer der Hauptverantwortlichen an den Verbrechen in Breitenau, Kassels Gestapo-Chef Franz Marmon, nur mit einer geringen Strafe davon kam?
Franz Marmon wurde 1952 von einem Schwurgericht in Kassel wegen eines Befehls zur Erschießung von 78 Italienern und eines russischen Zwangsarbeiters am Bahnhof Wilhelmshöhe zu zwei Jahren Gefängnis wegen Totschlags verurteilt. Er hatte zwei Drittel der Strafe bereits in Untersuchungshaft verbracht. Das restliche Drittel wurde ihm auf dem Gnadenwege erlassen. Von den Massenmorden in Wehlheiden und Breitenau wurde er freigesprochen, da er sich auf einen Befehl aus dem Reichssicherheitshauptamt berufen hatte. Bei dem Massenmord in Wilhelmshöhe berief sich Marmon auf den Katastrophenbefehl Himmlers. Das Gericht erkannte den Befehl Himmlers nicht als Rechtsgrundlage an. Aber Marmon wurde strafmildernd in Rechnung gestellt, dass er annahm, rechtmäßig zu handeln.
Was ist aus Marmon geworden?
Er ist schon 1954 im Alter von 46 Jahren gestorben. Ich wusste bis vor vier Wochen nicht, warum. Ich dachte immer an einen Unfall. Er war ja noch jung. Vor vier Wochen bekam ich Besuch von einem Verwandten Marmons aus Süddeutschland. Er hat meine Dissertation auf KOBRA gelesen, und ich habe Briefe Marmons bekommen, etwa 60 kopierte Seiten. Ich habe sie wegen der Documenta noch nicht durcharbeiten können.
Und woran ist Marmon nun gestorben?
In einem Zeitungsartikel ist von einem Herzschlag die Rede. In der Familie Marmons gab es das Bestreben zu klären, ob Marmon wirklich der schreckliche Nazi-Täter war oder ob seine Rolle nicht anders bewertet werden muss. Schließlich trat in dem Kasseler Prozess 1952 unverhofft der Vater der Geschwister Scholl als Entlastungszeuge auf. Das war eine Sensation. Robert Scholl sagte, dass sein Sohn Hans eine hohe Meinung von Marmon gehabt habe. Aber man muss auch wissen, dass Marmon nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl weiter in der Gestapo Karriere gemacht hat.
Wir freuen uns auf eine Aufarbeitung dieses neuen Materials und wünschen Ihnen noch eine gute Documenta. Vielen Dank für das Gespräch.
Die Rolle von Robert Scholl als Entlastungszeuge im Marmon-Prozess ist in der Dissertation Gunnar Richters „Das Arbeitserziehungslager Breitenau. Ein Beitrag zum nationalsozialistischen Lagersystem“ auf den Seiten 483-488 nachzulesen. Zitierfähiger Link zur überarbeiteten PDF-Fassung der Dissertation (3,4 MB):
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:34-2011120539885
Den Pavillon Richters (Nr. 148) mit der Ton-Dia-Reihe sowie vier Tafeln der ersten Ausstellung und Fotos mit heutigen Ansichten findet man in der Karlsaue, wenn man mit dem Rücken zur Orangerie steht und sich in einer Linkskurve in den Park bewegt nahe am Auedamm. Gunnar Richter ist dort täglich eine Stunde anwesend, um mit Besuchern über Fragen der Gedenkstättenarbeit und der Erinnerungskultur zu sprechen: montags bis freitags von 17.00 bis 18.00 Uhr sowie samstags und sonntags von 12.00 bis 13.00 Uhr. Außerdem bietet Richter jeden Mittwoch eine Exkursion von Kassel nach Breitenau und zurück an, zu der man sich über die Homepage der documenta anmelden kann.
Weitere Künstler haben sich mit Breitenau beschäftigt. In einem Saal des ersten Stockwerks des ehemaligen Hafttrakts in Breitenau hat die Documenta-Künstlerin Judith Hopf eine Glasarbeit ausgestellt. Im Nordflügel des Kasseler Hauptbahnhofs zeigt Clemens von Wedemeyer eine Video-Installation, und in der Handwerkskammer am oberen Ende der Treppenstraße befindet sich eine Foto- und Audio-Installation von Ines Schaber und Avery F. Gordon.
Im ehemaligen Benediktinerkloster Breitenau, einem Ortsteil von Guxhagen, 15 Kilometer südlich von Kassel, wurde 1933-34 ein frühes Konzentrationslager zur Inhaftierung politischer Gefangener eingerichtet. In den Jahren 1940-45 diente Breitenau als so genanntes Arbeitserziehungslager. Von Breitenau aus wurden Gefangene auch in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Von 1952-73 diente die Anlage als Mädchenerziehungsheim. Heute befindet sich dort eine Wohnanlage und eine Rehabilitationseinrichtung von vitos-Kurhessen für seelisch kranke Menschen. Die Gedenkstätte wurde 1984 eingerichtet. Die Universität Kassel unterstützt den Erinnerungsort während der Documenta 13 mit zusätzlichen studentischen Hilfskräften, sodass die Einrichtung auch samstags und sonntags für Besucher geöffnet ist.
Homepage der Gedenkstätte Breitenau: http://www.gedenkstaette-breitenau.de/
Homepage der aktuellen Documenta: http://d13.documenta.de/
Kasseler OnlineBibliothek, Repository und Archiv (KOBRA), das digitale Archiv für die wissenschaftlichen Dokumente der Universität Kassel: https://kobra.bibliothek.uni-kassel.de/